mai nachmittag garten - 2„Bäh, dieser Pilz sieht aus wie Einsteins Gehirn. Naja, nach hundert Jahren auch kein Wunder“, ächzte Bruno und lehnte sich angeekelt zurück. Henk betrachtete den schwarzen Kloß auf dem Rasen genauer und zählte dann eine Weile an seinen Fingern. „Moment mal. Einstein ist erst seit 62 Jahren tot.“
Bruno schnippte eine Zecke von seiner Ferse. „Zeit ist relativ.“ Hektisch stampfte er auf den Platz, wo er die Zecke vermutete.
Henk ließ nicht locker: „Woher willst du wissen, dass es wie das von dem Einstein aussieht? Könnte auch jeder andere sein.“ Bruno wackelte mit dem großen Zeh. Beim Versuch, auf die Zecke zu treten hatte er sich den großen Onkel gestoßen. „Eben, also auch das von Einstein.“
„Oder von Goethe?“, fragte Henk.
Bruno nickte geistesabwesend. „Oder das von Goethe.“ Henk pfiff anerkennend durch seine Zahnlücke: „Wir haben ziemlich schlaues Gemüse, was?“
„Blöde Zecke – was? Bitte?“ Bruno schaute irritiert hoch. „Bruno, es gibt noch gar keine Zecken, es ist noch zu früh. Vielleicht war es eine Erbse.“
„Für Erbsen ist es auch zu früh. Und was war es dann?“ Bruno rieb sich den Fuß am Gras ab und schnaufte. „Ich will mal die neuen Blumen vorm Haus ansehen. Der große Typ hat die ganzen kleinen Kübel bepflanzt. Kommst du mit?“
Henk nickte. Er hatte nichts weiter vor diesen Nachmittag. Er rupfte unterwegs einen Grashalm ab und kaute verwegen auf dem Stängel.

mai nachmittag garten - 10„Hübsch. Das kann er.“ Henk sog den Duft der Blumen ein.
„Ja. Neben tausend anderen Sachen. Dabei fällt mir auf, dass wir gar kein Trampolin hier draußen haben. Alle Eltern, die was auf sich halten, kaufen Trampolins sobald ihre Kleinen halbwegs laufen können.“
„Vielleicht hoffen sie, dass sich damit das Geschrei von allein erledigt. Ich kann dich ja hochschmeißen, wenn du dir was davon versprichst“, bot Henk an.
„Nein, lass nur, jetzt nicht“, sagte Bruno schnell. Er drehte sich um und schlug den Weg zur Auffahrt ein.
Henk folgte grashalmstängelkauend: „Irgendwas riecht hier schlimm“ sagte er und schnüffelte geräuschvoll.
„Ich war’s nicht“, sagte Bruno schnell. Dann schnupperte er auch in die Luft. „Du hast recht. Fein schlimm riecht das. Lass mal nachschauen, wo das herkommt.“
Mit ausgebreiteten Armen und erhobener Nase wackelte Bruno über die Auffahrt.
mai nachmittag garten - 4 (1)„Hier!“ Bruno zeigte auf den Gipfel einer rostigen Lampe. Der große Typ hatte sie geschweißt und der Rost am unbehandelten Metall war seine volle Absicht.
„Na toll. Mount Lampe. Und wie kommen wir da hoch?“ Henk schaute an der Lampe hoch. Sie maß über eineinhalb Meter und der Geruch kam von oben, er fiel sozusagen vom Gipfel herunter.
„Klettern. Wir sind schließlich Bären.“ Bruno machte sich an den Aufstieg, Henk kraxelte ihm hinterher. Von Zeit zu Zeit quietschte eine Kralle über den Untergrund.
„Ich müsste mal dringend telefonieren“, knurrte Bruno auf halber Strecke.
„Warum?“, keuchte Henk. Er war etwas aus der Übung.
„Pizza-Service. Hiernach brauche ich eine Pizza. Mit doppelt Anchovis und Kapern.“
„Hör auf, ich krieg Hunger“, meinte Henk und schob Bruno mit der Pfote höher. „Kannst du schon was sehen?“
„Höher!“
„Jetzt? Siehst du schon was? Du kriegst übrigens nichts mehr zu essen, du wirst immer fetter.“
„Ich bin ein Bär. Ich muss Winterspeck anfressen.“
„Es ist Frühling. Winter war gerade. Du müsstest total ausgehungert sein.“
Bruno gab ihm eins nach unten auf den Dickschädel. „Kleines Stück noch. Hepp!“
Henk stemmte. Bruno zog sich hoch, über die Kante und war auf dem Gipfel angelangt. Er stutzte. Vor ihm lag ein Häufchen Elend.
„Au weia. Henk, das willst du nicht sehen.“
„Lass das meine Sorge sein.“ Henk zog sich auch auf die Plattform. „Was ist? – Oh.“
mai nachmittag garten - 6Zwischen zwei Steinen lag eine tote Maus.
„Der kleine Kumpel hat es hinter sich“, murmelte Henk.
Unschlüssig zog Bruno der toten Maus am Ohr.
„Sie rührt sich nicht.“ Er zog nochmal.
„Bruno, der Geruch ist ein Hinweis, und sie hat nicht vergessen zu duschen. Sie ist tot. Mausetot.“
„Und jetzt?“ Bruno ließ das Ohr vor- und zurückflappen. Er atmete flach durch seine geschlossenen Zähne. „Sie stinkt wirklich ein bisschen. Bisschen doll.“
„Wir beerdigen sie. Was sonst? Willst du sie grillen oder ausstopfen?“
„Nein, du hast ja recht.“ Betrübt sah er auf den Nager. „Und wie kriegen wir sie runter?“
Henk versetzte der Maus einen Schubs. Erwartungsgemäß folgte der Körper der Schwerkraft und plumpste mehr oder weniger sanft in den Holz-Schredder des Vorgartens.
„Wie sie wohl hierher kam“, fragte Bruno.
„Vielleicht hatte sich der Bussard die Maus als einen Snack zurückgelegt.“
mai nachmittag garten - 2 (1)„Meinst du, er wird sauer, wenn wir sie einbuddeln?“ Nicht, dass Bruno sich ängstigte – wer hat schon Bammel vor einem Raubvogel, der sechsmal so groß ist wie man selbst?
„Bruno, ich kann nicht klettern und denken gleichzeitig. Lass uns erst hier runter.“
Schweigend hangelten sie sich weiter an der Stahlwand herunter.
Unten angekommen fragte Bruno: „Meinst du, wir sollten Koksi und Teddyz Bescheid sagen?“
Henk schüttelte den Kopf. „Koksi will nur wieder Blumen streuen und drei Hare Krischnas singen und dann werden wir nie fertig. Und Teddyz wird uns fragen, ob wir nicht mal alleine eine Maus unter die Erde kriegen. Und warum wir sie nicht selbst gefressen haben.“‚
„Ja, da ist er recht altmodisch. Ein alter Bär halt.“
„Aber auf Pizza ist er auch ganz versessen. Neumodisch hin oder her.“ Henk bedauerte jeden Mitstreiter am Pizzakarton.
„Ja. Wo buddeln wir sie jetzt ein?“
„Bei den Nelken. Die Nelken überdecken den Geruch.“
„Okay.“ Bruno nickte.
Henk zog den Leichnam am Schwanz über den Hof. Bruno verbiss sich einen Kommentar über Pietät und Feingefühl – er selbst hätte eine Schubkarre gebraucht, um den schlaffen Körper zu bewegen – und die gab es nicht in seiner Größe.
Sie schlenderten den Gang zum Haus hoch.
„Der Bussard wird bestimmt sauer, ich bin mir sicher“, bemerkte Bruno und suchte den Himmel nach einer verräterischen Kontur ab.
„Mir egal“, grunzte Henk.
Das stimmte. Einmal hatte der Bussard versucht, sich Koksi zu schnappen, der sich im Grase liegend an einem Butterblümchen ergötzte – und dafür von Henk böse Prügel kassiert. Seitdem war Koksi im Revier tabu.
Bei den Nelken angekommen legte Henk die Maus zwischen die schmalen Stängel und wandte sich um: „Du bist dran“ sagte er zu Bruno und lehnte sich gegen die von der Frühlingssonne erwärmte Mauer.
mai nachmittag garten - 9Bruno schnaufte durch und begann zu graben.
„Das gibt bestimmt wieder Mecker von Sybille“, merkte er an.
„Meinst du, sie hätte sie Maus gerne für sich selbst gehabt?“
„Nein, weil wir hier das Beet aufwühlen.“ Er betrachtete sich die Bescherung. Überall lag Schredder. Selbst die Nelken neigten sich ihm bedrohlich entgegen, als wären sie verstimmt, kurzerhand als Friedhof dienen zu müssen.
„Schimpfe gibt es sowieso immer. Also ist es wurscht, was wir anstellen“, entgegnete Bruno.
„Ist Schimpfe dann relativ?“ Henk runzelte die pelzige Stirn.
„Nein. Verbrechen sind relativ. Kommt immer drauf an, wer was davon hat. Eine nasse Papierkugel mit’ner Zwille auf ’nen Landrat zu schießen ist verboten, aber verkaufte Panzer nach Saudi Arabien stärken die Export-Bilanz.“
Henk beugte sich vor und deutete auf das frische Grab. „Da schaut noch ein Fuß raus.“
Bruno besserte nach. Nach getaner Arbeit patschte er in die Pfoten.
„Wie wäre es mit einem Nickerchen unter unserer Trauerweide?“
„Zeit wäre es“, antwortete Henk.
mai nachmittag garten - 4Sie wackelten über den Rasen und machten es sich unter den Zweigen gemütlich. Ein Weilchen herrschte friedliches Schweigen zwischen den beiden Bären.
„Kriegen wir dieses Jahr eigentlich wieder neue Fische?“ unterbrach Henk endlich die Stille.
„Hier vorne oder hinten beim See?“, fragte Bruno.
„Wo kann man besser angeln?“ fragte Henk zurück.
„Sybille kriegt ’nen Anfall, wenn du im Garten das Angeln anfängst!“ Bruno setzte sich auf. „Sie hat heute schon den blöden Reiher vertrieben, der ist wieder da. Mit ziemlich wüsten Beschimpfungen übrigens“, fügte er hinzu. Dann drehte er den Kopf zum Haus: „Wo ist sie überhaupt?“
Henk spitzte ein Ohr. „Sie flucht noch immer über die Servicewüste. Jemand aus’nem Kundenservice hat in einer Mail ziemlich bescheuert reagiert und behauptet später, das wäre nur ein Witz gewesen.“
„Aha. Selektiver Humor.“
„Hä?“
„Wenn nur einer von Beiden lachen kann, und das war derjenige, der den Witz gemacht hat. – Normaler Humor ist, wenn alle drüber lachen können.“
„Selbst Koksi?“
„Wenn sogar Koksi drüber lachen kann ist es blütenreiner, friedliebender und herzerwärmender Humor mit der Korrektheits-Belastbarkeit von VA-Stahl.“
„Gibt’s den Satz auch in Deutsch?“
„Nö.“
Henk schnüffelte.
„Bruno, du stinkst nach toter Maus.“
Bruno funkelte ihn an: „Das ist genau der selektive Humor, den ich meine.“
„Mir wumpe. Du stinkst.“
Bruno schnupperte an seinen Pfoten. „Leider hast du Recht. Waschbecken?“
„Ja, aber nur draußen. Drinnen gibt es nur wieder Tamtam und ich will meine Ruhe haben.“
„Na denn“, stöhnte Bruno. Der Wasserhahn war an die Pumpe im Garten angeschlossen und bot nur kaltes Wasser. Sehr kaltes Wasser.
Mutter Natur hatte offensichtlich auch Humor. Sehr selektiven Humor.
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