„Menno, das ist zappenduster hier drinnen. Man sieht die Pfote nicht vor Augen,“ flüsterte Koksi.
„Deswegen heißt es ja ‚Blinder Passagier‘. Man darf sich nicht beschweren, wenn man sich heimlich in einen Koffer mogelt“, sagte Bruno. Er tastete etwas um sich herum, nestelte ein paar Taschentücher aus einer Tasche neben sich und knüllte sie zu einer bequemen weichen Matratze.
„Ich hab Durst“, zischte Koksi. „Wieso hat sie kein Wasser eingesteckt? Immer schleppt sie irgendwelche Wasserflaschen mit sich herum, aber wenn es drauf ankommt, sitzt man auf dem Trockenen.“
Bruno kaute nachdenklich auf einem Kugelschreiber, der neben ihm in einem Seitenfach steckte. „Wir stehen schon eine ganze Weile hier. Vielleicht haben wir Glück und sie ist ins Restaurant gegangen. Dann können wir uns …“ – „Das nennst du Glück, wenn sie ohne uns Essen geht? Ich will nie wieder verreisen.“
„Koksi, das nennt man Abenteuer. Aber dein Nörgeln hat mich auf eine Idee gebracht. Ich schau mal, wo wir sind.“
„Schau lieber nach etwas zu trinken!“
Bruno steckte eine Kralle hinter den Reißverschluss-Schlitten und öffnete so einen kleinen Spalt. Licht schien in die Tasche. Koksi kniff die Augen zu. „Mann, ist das hell!“
Bruno überhörte die Beschwerde. Er spähte aus der Tasche, vorsichtig, um nicht entdeckt zu werden.
„Was siehst du?“ fauchte Koksi aus dem Papierkram unter ihm.
„Wir sitzen im Zug, und das Ziel sollte Berlin sein, jedenfalls hatte sie das ja gesagt. Und… iiih, wie eklig, dahinten schläft einer und sein Sabber läuft …“ – „Ist da irgendwo Sprudel, Bruno?“
Bruno stemmt sich weiter hoch. „Ja, Momentchen. Hier steht eine.“
Er zog an der Flasche, wuchtete sie hoch und schob sie an der Dokumentenmappe vorbei zu Koksi, der ihm schon vor Aufregung wie wild am Fuß zog: „Bruno, geht das nicht ein bisschen schneller?“
Bruno ließ die Flasche los und sie knallte dem kleinen Eisbär auf den Schädel. Unbeirrt griff Koksi nach dem Schraubverschluss, öffnete ihn und trank. Und trank. Und trank. „Mann, hatte ich einen Durst“, keuchte er. Dann tat er einen enormen Rülpser. Bruno schaute ihn beeindruckt an: „Jetzt hast du sogar die eklige Schlafmütze dahinten geweckt“, sagte Bruno. „Oder… nee, doch nicht, er pennt weiter. Alles gut. Lass uns mal raus klettern, ich sehe da einen Fahrplan.“ Koksi schob die leere Wasserflasche zurück nach oben und folgte ihr in die Freiheit.
„Heiliger Bimbam, wir sind noch nicht mal in Hamburg“, sagte Bruno.
„Soll das heißen, es ist noch sehr weit?“ Koksi klang bekümmert. Seine Vorfahren hatte seit Urzeiten ihre Reisen auf Eisschollen angetreten – eine Zugfahrt im Innern einer Tasche anzutreten hätte sie nicht unbedingt mit Stolz erfüllt. Trotzdem hatte die Reiselust jetzt den kleinen Bären gepackt. Mit einem Satz war er vom Tischchen auf das schmale Fenstersims geklettert.
„Junge, sieh zu dass du da nicht abrutschst“, mahnte Bruno. Er hielt sich bereit, Koksi festzuhalten, wenn der Zug wieder mal ruckeln sollte. Aber Koksis schlechte Laune war wie fort geblasen, er ging ganz dabei auf, die vorbei rasende Landschaft zu bestaunen.
„Junge, junge, wir haben einen ganz schönen Zahn drauf“, stellte Koksi fest. Er war schon mal im Auto mitgefahren, aber das hier war schön schneller.
„Bist du bald fertig? Bestimmt kommt sie gleich und wenn wir nicht weit genug weg sind von Zuhause, schickt sie uns einfach wieder zurück.“
Koksi starrte Bruno entgeistert an: „Ganz alleine? Die ganze Strecke!?“
Bruno nickte. „Teddyz und ich hätten fast mal von Frankfurt aus allein zurück gemusst, aber sie musste es geheim halten, weil, überall waren so komische Typen im dunklen Anzug, piekfein, und da wollte sie nicht laut mit uns schimpfen.“
„Wie praktisch“, bemerkte Koksi, „dann müssen wir ja nur noch warten, bis der Typ dahinten hierher kommt, und wir sind raus aus dem Schneider.“
Rasch sah Bruno in die Richtung, in die Koksi gezeigt hatte. „Koksi, schnell, zurück in die Tasche! Das ist der Schaffner, und wir haben keine Fahrkarte!“
Koksi zog triumphierend den Ausdruck mit Sybilles Reise-Unterlagen ans Tageslicht. Bruno schüttelte den Kopf: „Das gilt nur für Sybille, aber nicht für uns.“
Sie drängelten sich zurück in ihr Versteck und keuchten leise, als der freundliche Mitarbeiter der Bahn am Platz vorbeiging.
„Das hätte ins Auge gehen können“, raunte Bruno. Koksi starrte mit weit aufgerissenen Augen hoch zum Reißverschluss, die strafende Hand der Zugbegleitung erwartend. „Der Typ sah aus wie Voldemort von Harry Potter!“ flüsterte er.
Einige Stunden später schnarchte Koksi tief und fest, als Bruno seltsam klingendes Stimmengewirr von außen vernahm. Er stupste Koksi an. „Wasnwassolldas?“, knurrte der Kleinere leise und rieb sich die Augen.
„Irgendwas stimmt hier nicht. Wir sollten längst in Berlin sein. Halt mich mal am Fuß fest, und wenn es Ärger gibt, ziehst du mich wieder runter.“ Mit diesen Worten war er durch den Reißverschluss. Er hielt inne. Er schnappte nach Luft.
„Au Backe!“
Koksi drängelte sich an ihm vorbei. „Was ist?“
„Wir sind abhanden gekommen. Da schau“, sagte Bruno und deutete auf die Informationstafel, „das ist dänisch oder norwegisch oder so.“
„Du meine Güte, Bruno, was machen wir denn jetzt?“ Koksi war außer sich. Die erste Reise mit Bruno und schon ging alles schief!
Synchron schüttelten beide die Köpfe.
„Eieieiei“, sagte Bruno, „Eieiei.“
Wie von der Tarantel gestochen hüpften die Teddys in die Höhe, als Sybille sie anstupste. „Was macht ihr zwei da?“
„Oh,“ sagte Bruno mit ebenso breitem wie hilflosem Grinsen, „was für ein Zufall, Sybille, du bist auch hier!“
Koksi hielt sich nicht mit Faxen auf sondern krabbelte Sybille direkt auf den Pullover. „Oh wie schön, jetzt sind wir alle wieder zusammen und du bist auch da! Sind wir wirklich verloren gegangen? Hast du zufällig einen Schoko-Riegel dabei? Dein Wasser ist übrigens leer. Wo fahren wir eigentlich hin? Ich dachte es geht nach Berlin.“
Sybille warf Bruno einen strengen Blick zu und strich dann Koksi sanft über den Kopf.
„Nein, mein lieber Koksi, wir fahren über Heiligenhafen erst zu meiner Freundin Julia, und danach nach Berlin. Und wir sind auch bald da, und dann gehen wir erst mal an den Strand und lassen uns etwas Meeresluft um die Nase wehen. Was haltet ihr davon?“
Bruno jubelte, ihn hielt nichts mehr: „Julia! Wir fahren wirklich zu Julia? Juhuuuu!“
Koksi schaute zu Sybille hoch: „Ist Julia nett?“ Ihm war es immer etwas befremdlich, wenn er neue Leute kennen lernen sollte.
„Sehr nett, schau dir Bruno an, wie er sich freut. Und – im Innenfach der Tasche müsste noch ein Müsli-Riegel stecken, falls du Hunger hast.“
Und tatsächlich, nur eine Stunde später waren sie hinterm Hafen und am Strand – und auch Herrn Gottlieb Friedrich Stüben konnten sie noch aufs metallene Ölzeug klettern.
Briefe von Euch, danke!